Akt der Stadt
Von Urs Bühler
Städte haben viele Identitäten. Ihre Charaktere offenbaren sich jedem Betrachter anders, je nach Perspektive. Und wer möchte behaupten, diese oder jene Ansicht sei die wahre? Sich der Stadt über die Darstellung von deren Körperlichkeit zu nähern, ist der Ansatz des Künstlers Thomas Müller. Gerade weil er uns von der alltäglichen Wahrnehmung wegführt, vermittelt er überraschende Einsichten.
Er wählt in Google Earth Bilder von Stadtfragmenten aus, zeichnet anschliessend die Umrisse der darin von oben zu sehenden Bauten nach und projiziert diese Umrisszeichnungen auf grossformatige Leinwände aus Jute oder Baumwolle. Dann trägt er mit dem Spachtel Zement oder Gips auf, um sogleich die Strassenzüge, Plätze und Innenhöfe wieder herauszuarbeiten. Bei den Bildern in Gips trägt er zudem noch mehrere Schichten, nun aber nur noch auf die Baukörper, auf. So entsteht eine pastose, beinahe skulpturale Oberfläche – die Textur des städtebaulichen Grundmusters. Da die Masse schnell trocknet, muss alles in hohem Tempo und Abstraktionsgrad geschehen: Innert weniger Minuten, wenn nicht Sekunden werden mit den zwei Baumaterialien Stadtteile rudimentär nachempfunden, die in der Realität oft über Jahrhunderte hinweg entstanden sind. Und jedes Bild trägt den Namen einer der abgebildeten Strassen, der damit ein Denkmal gesetzt wird, vom Corso Vittorio Emanuele II in Rom über die Rua dos Douradores in Lissabon bis hin zur Rue Berger in Paris. Während die Dachaufsicht, als fünfte Dimension einer Stadt, hier sozusagen ihr Pendant von unten her erfährt, wird gleichzeitig sichtbar, wie sich die städtebaulichen Texturen entlang einer Strasse wandeln.
Bei seiner fast schon archäologisch anmutenden Rekonstruktion fokussiert Müller allein auf die Struktur des Baukörpers, auf die Textur des Stadtraumes; Topografie, Gebäudehöhen, Vegetation, Gewässer, Farben und viele weitere, das Stadtbild in der Realität prägende Elemente lässt er weg. Ihn interessiert alleine der «nackte» Stadtkörper, die urbane DNA, die er auf diesem Weg freilegt. Um den Fokus auf das Körperbild des gespachtelten Stadtfragmentes noch zu verstärken, löst er sich bewusst von der herkömmlichen Plandarstellung, sprich der Massstab ist übergross und Norden ist nie oben. Am Schluss steht da, um es mit Worten Müllers zu sagen, ein «Akt der Stadt».
Dabei offenbaren die Stadtporträts überraschende bildnerische und plastische Qualitäten. Je nach gewähltem Material erhält das Ergebnis ein ganz anderes Gesicht: Der mineralische Zement spiegelt das Baumaterial an sich und verfestigt sich in unterschiedlichen Färbungen zu einem anmutsvollen, rohen Gesamteindruck. Die Versionen in Gips leben zudem von ihrer Tektonik, von akzentuierten Konturen und Schattierungen.
Beide Materialien geben ihrem Bearbeiter wenig Zeit, dem Betrachter aber viel Raum zur Interpretation. Der Geist hat die Wahl: Er lässt die geometrischen Formen als abstraktes Spiel zwischen Kubismus und Art brût ganz unvermittelt auf sich wirken – oder er erkundet wandelnd das dargebotene Muster: Vielleicht versucht er dabei, einen Aufriss zu rekonstruieren, womöglich füllt er Auslassungen mit eigenen Erinnerungen an die Stadt auf und haucht ihr gedanklich wieder Leben ein. Solcherart sind die Leerräume, mit denen die Kunst die Phantasie nährt.